(english) Sechzig Künstlerinnen und Künstler aus
dem In- und Ausland sind der Einladung von Oberwelt e.V. zur Teilnahme
an der Gruppenausstellung Die Büchse der Pandora – 100 Jahre Franz
Kafkas 'Das Urteil' gefolgt.
Ihre gezeigten Werke stehen entweder in direktem Bezug zur Erzählung
'Das Urteil' oder gehen auf eine künstlerische Auseinandersetzung
mit Kafka in längeren Zeiträumen zurück.
Beide Wege zeigen sich in einer großen Vielfalt von Medien als Ausdrucksformen.
Sie reicht von Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Fotografie und Collage
über das Wandobjekt, die Kleinplastik und Installation bis zu Video
und Performance.
Die inhaltliche Struktur der Präsentation, die all diese Medien durchmischt,
schafft die Möglichkeit, in einen Dialog mit der aktuellen künstlerischen
Kafkarezeption anhand interpretatorischer und ästhetischer Gesichtspunkte
zu treten.
Die Ausstellung bildet den zweiten Teil der Doppelveranstaltung Die
Büchse der Pandora – 100 Jahre Franz Kafkas 'Das Urteil', die im April
2013 mit einer Lesung der Erzählung
(Susa Ramsthaler) und einem anschließenden literaturkritischen
Vortrag (Dr. Gerhard Oberlin) begonnen wurde.
Zur Finissage hat Dr. Gerhard Oberlin zwei weitere Vorträge
gehalten, über Kafka und die Kunst, sowie über Aspekte zahlreicher
Werke in der Ausstellung.
Der Charakter als Doppelveranstaltung liefert zugleich das Muster
für die ganze Veranstaltungsreihe 'Reflexe',
die noch vor Ende des Jahres fortgesetzt wird.
Mit kleinem Performance-Programm bei der Eröffnung.
Die Einführung hält Dr. Gerhard Oberlin.
Besichtigung bis 3. September 2013, Mo. 21.30 – 24.00 Uhr u.n.V. unter
Tel.: 0711 6363464 oder 51876346
Beteiligte Künstler/innen
Miriam Abdelmoula
Pia von Aulock
Beate Baumgärtner
U!!i Berg
Conny Blom
Milivoje Bogosavljevic
Michaela Braun
Julia Brodauf
Jörg Buchmann
Klaus Bushoff
Clare Chapman
Heinrich Dosedla
Pola Dwurnik
Daniel Eltinger
Karin Förster
Pippi Frank
Johannes Gérard
Kurt Grunow
Günter Guben
Markus Hallstein
Annette Haug
Peter Haury
Iris Hellriegel
Oliver Herrmann
Ulrike Jacobi
Michael Jochum
Hannelore Kober
Eva Koberstein
Markus Koch
Stephan Köperl
Fabian Kühfuß
Artur Kurkowski
Hui Ling Lee
Nadine Lindenthal
Stefan Malicky
Jan-Peter Manz
Natalia Matta-Landero
Andreas Mayer-Brennenstuhl
Brigitte Neufeldt
Wolfgang Neumann
Mario Ohno
Joachim Peter
Klaus Pinter
Katja von Puttkamer
Ellen Rein
Stefanie Reling
Heike Sackmann
Michaela Sadlowski
Yutta Saftien
Kerstin Schaefer
Rüdiger Scheiffele
Reiner Schlecker
Jochen Schlöder
Peter Schmidt
Julia Schrader
Johanna Smiatek
Ulrich Stürmer
Thomas Ulm
Sylvia Winkler
Ute Z. Würfel
Ausschreibungstext: Einladung zur Teilnahme
Unter dem Titel "Die Büchse der Pandora – 100 Jahre Franz Kafkas
Das Urteil" veranstaltet die Oberwelt e.V. in ihren Räumen eine
Ausstellung.
Die Teilnahme steht allen Künstlern offen, die sich von dieser exorbitanten
Geschichte künstlerisch inspirieren lassen wollen.
Sie wird hiermit ausgeschrieben.
Anmeldeschluss ist der 31. Mai via kontakt(at)oberwelt.de oder postalisch;
auch Performance willkommen; Abgabetermin und Aufbau sind der 17.
und 18. Juli.
Ausstellungseröffnung: Freitag, 19. Juli 2013, 19:15 Uhr
Einführung: Dr. Gerhard Oberlin
Oberwelt e.V., Reinsburgstraße 93, Stuttgart-West
Im Mai ist es genau 100 Jahre her, dass Franz Kafkas Geschichte "Das
Urteil" in Max Brods Jahrbuch "Arcadia" das Licht der literarischen
Welt erblickte. Das kleine, im Originaltyposkript 17 Seiten kurze
Werk war in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 "wie eine
regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt" aus seinem Urheber
hervorgegangen, wie dieser am 11. Februar 1913 in sein Tagebuch schrieb.
Es blieb zeitlebens die ihm "liebste Arbeit", während er den größten
Teil seines Gesamtwerks später vernichtet sehen wollte. Ein Erfolg
zu Lebzeiten war die Geschichte nicht. Die Arcadia-Auflage von 1000
war auch noch 1919 nicht vergriffen. Da lag allerdings "Das Urteil"
bereits als 80-Groschen-Heft der Nummer 34 in der Edition "Der Jüngste
Tag" im Kurt Wolff Verlag vor, der es in zweiter Auflage seit 1916
höchstens zwei- bis dreitausend mal verkaufte. Heute gilt die Geschichte
als eines der exorbitantesten Werke der Weltliteratur, in dem sich
die Ichzerfallenheit des modernen Menschen wie in keinem anderen davor
oder danach widerspiegelt.
Stuttgarter Zeitung vom 2. August 2013
Vorträge von Dr. Gerhard Oberlin zur Finissage am
3. September 2013 in der Oberwelt
KAFKA UND DIE KUNST
Ich beginne mit 2 Episoden aus Kafkas Leben, das vor 130 Jahren am
3. Juli 1883 in Prag begann.
Erste Episode: Der junge Gustav Janouch, der Anfang der 20er Jahre
das Gespräch mit Kafka suchte und dieses aus der Erinnerung dokumentierte,
zeigte ihm eines Tages eine Sammlung mit Federzeichnungen, die vor
und während des Ersten Weltkriegs die Titelseiten der Wiener-Kronen-Zeitung
zierten, einer Illustrierten der Regenbogenpresse. Als sie beim Bild
einer zerstückelten Prostituiertenleiche ankamen, sagte Kafka: "Brr,
wie scheußlich!" Auf Janouchs Einspruch: "Es ist ein Bildersalat
− bunt wie das Leben", sagte Kafka: "Nein, das stimmt nicht.
Die Bilder verdecken mehr als sie enthüllen. Sie gehen nicht in die
Tiefe, wo alle Widersprüche miteinander korrespondieren. Die Darstellung
eines Vorganges ist hier nur ein Mittel zum Geldverdienen. In dieser
Beziehung sind die Bilder der
Kronen-Zeitung eindeutiger und darum minderwertiger als die primitiven
Holzschnitte der alten Jahrmarktsmoritaten.
Die boten noch einen Anreiz der Phantasie, mit welchem man über sich
hinausreichen konnte. Das tun diese
Zeichnungen nicht. Sie brechen der Vorstellungskraft die Flügel. Das
ist ganz natürlich. Je mehr sich die Bildertechnik verbessert, um
so schwächere Augen
haben wir. Der Apparat lähmt die Organe." (Was wollen wir da
heute sagen?!)
Zweite Episode: Als es 3 Jahre nach Entstehung des "Urteils"
darum ging, eine Titelgrafik für "Die Verwandlung" zu finden,
äußerte sich Kafka ungewöhnlich besorgt in ungewöhnlich emotionalen
Briefzeilen an den Verleger Kurt Wolff am 25. Oktober 1915. Auf keinen
Fall dürfe der Käfer, in den Gregor Samsa sich verwandelte, abgebildet
werden: "Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann
aber nicht einmal von
der Ferne gezeigt werden. Wenn ich für eine Illustration selbst Vorschläge
machen dürfte, würde ich Szenen wählen, wie: die Eltern und die Schwester
im beleuchteten Zimmer, während die Tür zum ganz finsteren Nebenzimmer
offensteht."
Der mit der Titelgrafik beauftragte Ottomar Starke setzte diesen Vorschlag
ungefähr so in eine Zeichnung um, die Kafka offenbar befriedigte.
Spätere Illustratoren haben sich nicht an das Verdikt des Autors gehalten.
Was haben die beiden Episoden gemeinsam? Offenbar sieht Kafka eine
Diskrepanz zwischen Darstellungsinhalt
und Darstellungsmittel. Wenn das eine im anderen aufgeht, fehlt eine
Dimension, die zum Anstoßder
selbstständigenVorstellung nötig ist, die also die Fixierung auf den
Augenschein verhindert und das Bedeutungsspektrum zum Leuchten bringt.
Was, wenn nicht dies, hat Kafka in der zweiten Episode
bewogen, auf diese (für ihn ungewöhnliche) Art die Freiheit der Kunst
zu beeinflussen? Misstraute er dem Künstler, der Kunst generell? Sich
selbst? − Stellen wir uns nur für einen Augenblick einen (noch so
monströsen) Käfer auf dem Titelblatt des Buches vor.
Was hätte er mit dem Titel "Die Verwandlung" zu tun? Ließe
sich ein Käfer zeichnen, der Gregor Samsa heißt? Der vielleicht gerade
aus dem Traum erwacht? Der die Eltern beim abendlichen Krisenrat belauscht?
Dessen Stimme und Essmanieren immer "tierhafter" werden?
Ein Käfer, der seine Menschenschwester abgöttisch liebt, wenn sie
Violine spielt?
Was kann die Kunst, was die Literatur nicht kann? Was kann die Kunst
eher nicht? Nun, wir haben es in der ersten Episode gehört: sie kann
(nach Kafka) nur schwer die Spitze des Eisbergs und den Koloss darunter
gleichzeitig zeigen und dazuhin noch die Molekülstruktur des Eises
neben dem es umgebenden Meer mit seinen sämtlichen Inhalten und und
und
Will heißen: Vorgänge im gesellschaftlichen und seelischen Untergrund,
die noch ganz Gegenwart sind und schon ganz Zukunft, finden sich in
bildnerischen Fixierungen nicht leicht wieder. Das Bild tendiert zur
Statik, die Erzählung zum Fluss.
"Wir können die Dinge nicht statisch darstellen", sagt Kafka
über jüdische Mentalität.
Dazu kommt das Problem, Phantasmagorien, also Innenbilder wie der
Käfer, oder auch nur Metaphern in der Schwebe zu lassen. Kunst legt
vielleicht leichter fest, wo Literatur leichter offen lässt. Kommt
das Imaginierte ins eindeutige Bild, so Kafkas Befürchtung, wird die
Imagination beim Betrachter festgelegt. Imaginationen sind aber das
Herz der Kunst und Kunstrezeption.
Es schlägt nie bei allen gleich.
Über Imaginationen assimilieren wir die Welt zur unsrigen. Sie sind
also unsere Art dem Fremden Zutritt in unser Inneres zu gewähren.
Sie sind, wenn man so will, die noch erträglichen Kompromisse zwischen
uns und der Welt. Das entspricht seit langem psychologischen und seit
neuestem auch neurobiologischen Erkenntnissen.
Eine solche Imagination ist der Käfer, wie wir ihn uns vorstellen.
Nur diesen vorgestellten Käfer gibt es. Auf Schreibpapier bleibt er
in der sprachlichen Zwischenwelt. Auf Malpapier will er − Käfer sein,
der nicht irgendwie anders heißen kann. Man hat Kafka gefragt, weshalb
er seine (notorischen!) Zeichnungen, die er "Schmierereien"
nannte, nicht vor dem Papierkorb verschone. Viele befinden sich noch
im bisher unzugänglichen
Nachlass von Max Brod, 40 davon sind bekannt, vielleicht 20 haben
Karriere gemacht: Skizzen, grotesk, karikaturhaft, dynamisch, immer
nur Menschen. Sie erinnern mal an Chagall, mal an Kubin, mal an afrikanische
Strichmännchen. Max Brod hatte Pläne, sie in einer Sammlung zu veröffentlichen.
Das unterblieb, aber die wenigen, die bekannt sind, kennt kaum einer
nicht.
Kafkas Ästhetik hat viel mit jüdischen Wurzeln zu tun, deren er sich
mit der Zeit immer mehr bewusst wurde. "Höre, Israel!" spricht
Gott sein Volk an. Das Ohr ist das Organ für das Wesentliche, das
Auge unterliegt dem Bildverbot: "Du sollst Dir kein Bild machen!"
Die Sprache ist der Wahrheit näher. Aber auch sie darf den Namen nicht
aussprechen. Töne, vor allem große, sind suspekt, Musik ist trügerisch,
Harmonien lullen ein.
In seiner letzten Geschichte Josephine, die Sängerin oder das Volk
der Mäuse wird schon im Titel klar, dass Gesangskunst (also Kunst!)
erstens alles ist und zweitens aber nichts, denn Essenz gibt es letztlich
nur im Piepsen, Pfeifen, Verstummen. Nur die leistesten der Töne kommen
der Wahrheit nahe.
Kafkas (nie geschriebene) Ästhetik ist eine bis zum Äußersten reduzierte
Lautkunst, die er als (eher schweigsame) Wortkunst umsetzt. Seine
Vorleseobsession macht das anschaulich. Er
lachte sehr gern, wenn er vorlas − während seinen Zuhörern das Lachen
verging.
Der Schrecken im "Urteil" ist künstlerisch dargestellt worden.
Ich kannte vor unserer Ausstellung lediglich eine Radierung aus dem
Jahr 1967 von der Polin Marta Kremer, sie zeigt in solidarischer Untersicht
den von der Brücke fallenden Georg in Rückenlage, mit Riesenhänden,
begrölt und beglotzt von einem
anonymen Publikum am Brückengeländer. Wie in vielen Bildern dieser
Ausstellung geschieht das Leiden der Figur in der Öffentlichkeit,
ist gar, wie im Roman Der Prozess, eine öffentliche Hinrichtung. In
der Geschichte kennzeichnet das sich plötzlich umkehrende Größenverhältnis
von Vater und Sohn den Wendepunkt, der zum Tode führt. Das ist kein
Privatkonflikt. Kein Generationenkonflikt ist privat. Und es ist ja
weit mehr als das: es ist die Struktur im Kleinen, in der Familie,
die die großen Strukturen am Werk zeigen: den Betriebsapparat,
den Staatsapparat, den Wirtschaftsapparat. Das Kippen der gewohnten
Machtbalance: die 'Macht der Ohnmacht' gehört zur bürgerlichen Apokalypse,
die in Kafkas Geschichten so banal ist wie das Böse im 'Dritten (und
hoffentlich letzten) Reich'. Der Umschlag vom Alltag zum Terror ist
nie weit, der Terror ist im System angelegt, der Alptraum gehört zum
Traum. Immer schwappt etwas über oder ist dicht davor, immer laboriert
etwas an der Kippe, immer zeigt etwas Zahmes Zähne oder etwas Bezahntes
wird zahm. Kein Zustand ist also stabil in diesen Figuren; es gibt
überhaupt keinen Zu-stand, sondern nur Er-liegen. 'Zu-stand' (von
'stehen') ist bei Kafka immer eine
aufrechte Liegestellung, ein mühsam aufschobenes K.O. In dieser Welt
des Scheinfriedens ist keine Beschaulichkeit, alles rollt − aus dem
Gleis.
Warum ist das so? Die Welt, wie Kafka sie erlebt, ist keine Welt für
Menschen. Sie ist in ihn hinein, statt um ihn herum gebaut.
Er ist ihr Baumaterial, nicht umgekehrt. Der Mensch des
Anthropozän, um es (gegen Kafkas Willen) etwas großspurig zu sagen,
arbeitet gegen seine Evolution an seiner De-humanisierung, ja De-hominisierung,
er manipuliert an seiner anthropologischen Substanz. Er ist − als
Thema der Kunst − Opfer und Täter gleichzeitig, so wie Georg Bendemann
und sein Vater Opfer und Täter zugleich sind. Man könnte (wieder zu
großspurig!) von einem globalen Masochismus sprechen, der das Opfersein
so wenig verständlich macht wie das Tätersein.
Kafkas Geschichten zeigen immer beide Seiten der Medaille (und schließen
andere Seiten nicht aus).
Es wäre daher auch zu einfach, Kafka als Ankläger der
Industrie- und Massengesellschaft, der Staatsapparate, als Prophet
des Herrenmenschentums und seiner Millionen Opfer zu stempeln − obwohl
er das als Zeitgenosse der Expressionisten natürlich auch ist! Er
ist eines aber immer gewiss: ein radikaler Parteigänger des Menschen
in seiner evolutionären Trägheit, seiner viel zu großen Verletzlichkeit
− und er ist (zwar widerwillig) ein Pionier der psychologischen Introspektion,
die ihn zu seiner speziellen, mythenähnlichen Parabelsprache befähigt,
wie sie bisher keiner nachahmen
konnte.
Als Gustav Janouch ihn zu einem Bild von George Grosz aus dem Band
Das Gesicht der herrschenden Klasse (1921) befragte, das den Kapitalismus
als Allegorie mit Zylinderhut thronend über Menschen zeigt, sagte
Kafka, dass das ja alles viel komplexer sei; die Allegorie sei irreführend,
weil viel zu vereinfachend: "Der dicke Mann ist aber der Kapitalismus,
und das ist nicht mehr ganz richtig. Der dicke Mann beherrscht den
armen Mann im Rahmen eines bestimmten Systems. Er ist aber nicht das
System selbst. Er ist nicht einmal sein Beherrscher. Im Gegenteil:
der dicke Mann trägt auch Fesseln, die in dem Bild nicht dargestellt
sind. Das Bild ist nicht vollständig. Darum ist es nicht gut. Kapitalismus
ist ein Zustand der Welt und
der Seele." (J 102)
In diesen Worten zeigt sich in der Angst vor der Vereinfachung auch
die Angst vor großen Themen überhaupt, auf die Kafka oft genug (und
wohl zu oft) reduziert wird. Sein eigentliches Gebiet ist umrissen
vom naturgemäß kleinen Erlebnishorizont des Individuums. Hierhin hält
er seine Lupe. Wenn man den Menschen von Nahem sieht, wird er erst
menschlich. Will man ihm schaden, ihn gar zerstören, greift man zu
fernwirkenden
Waffen. Kafkas ganzes Werk ist eine einzige Kampfansage an die tausende
Versuche das Menschliche wegzuabstrahieren. Im Licht seiner Kleinepisoden
im Leben des Menschen erscheinen
dann Ideologien und andere Überkonstruktionen zwar als
anthropozid, menschenvernichtend, aberes fehlt der
Zeigefinger auf den Schuldigen. Keiner, so das Kafka'sche Brevier,
ist unschuldig. Die Stärke dieser Literatur, das Wunderbare ist somit
gerade im Anti-ideologischen das Unideologische als ästhetischer Generalbass.
Das spiegelt sich auch in der Sprache, deren (von ihm beargwöhntes)
Begriffsvermögen um 100% reduziert ist. Nur der engste Kreis ist wahr:
das Konkrete, Einfache, Nahe. Nur der Mensch zählt, nicht seine aufgeblähte
Sprechblase im linken Cortex. Da passt es ganz gut, dass Kafka sich
selbst als unmusikalisch bezeichnete. Wenn überhaupt, ist nur die
geschriebene Sprache zu ertragen, die leisen Töne − wir
sprachen davon. Sobald eine Stimme sich erhebt, noch gar zum Gesang,
wird es unerträglich. Kafka leidet tatsächlich unter einer Hyperakusis
(einer extremen Geräuschempfindlichkeit) − und er stirbt, welch Ironie
des Schicksals!, an Kehlkopftuberkulose, die ihn in den letzten Tagen
Ende Mai, Anfang Juni 1924 endgültig zum Verstummen bringt.
Um wieviel ausgeprägter ist sein Sehsinn. Er bezeichnet sich selbst
als "Augenmensch" (J 105) und wenn Künstler in aller Welt
sich an Kafkas Werk entlang- und abarbeiten (wie wir hier), ist wohl
in erster Linie sein Hang zur verbalen Zeichnung daran schuld. Alles
wird vor das innere Auge gestellt, die Welt ist konkret, wie der Sehsinn
sie sieht: unverstellt, ungeschützt und unbesprochen. Hier macht sich
einerseits die jüdische Tradition bemerkbar, sie zwingt zur Vorsicht
und Sparsamkeit: "Du sollst
dir kein Bild machen!" Andererseits aber macht sie den
Tabubruch umso köstlicher: Sie lädt ein zum Eindringen in die letzten
Geheimnisse, und zwar durch Worte, die Bilder malen.
Das ist erlaubt, das ist ein Kompromiss. Auf den letzten Metern zur
Wahrheit lässt der Autor den Leser ohnehin allein − aus Respekt vor
der Wahrheit und aus Respekt vor dem Leser, der seine Wahrheit finden
muss. Wahrheit gibt es immer nur die eigene!
Was wir hier um uns herum sehen, sind Bilder, die Worte malen, Kafkas
Worte. Kafkas Zeichnungen hängen nicht darunter. Er hielt sich nicht
für einen Zeichner, zeichnete für den Papierkorb, sprach von "Geschmiere"
und sagte zu Gustav Janouch: "Mein Herumzeichnen ist ein sich
ständig wiederholender und misslingender Versuch primitiver Magie."
Oder: "Aber das sind doch keine Zeichnungen, die ich jemandem
zeigen könnte. Das
sind nur ganz persönliche und darum unleserliche Hieroglyphen. Meine
Proportionen, Figuren, sie haben keinen richtigen eigenen räumlichen
Horizont.
Die Perspektive liegt vor dem Papier, am anderen, ungespitzten Ende
des Bleistifts − in mir."
Kafka hielt sich also nicht (wie Kubin, Kokoschka, Keller,
Goethe etc.) für ein Doppeltalent. Er hat während seines
Jurastudiums an der Uni Vorlesungen in Kunstgeschichte
gehört, war ein Kunstkenner (was man in der Prager Kulisse auch fast
zwangsläufig wird), zweifelte aber auch an dieser Kompetenz: "Hast
Du vor Bildern Vertrauen zu Dir, ich zu mir nur selten", schrieb
er im August 1916 an Felice Bauer, seine Verlobte. Im Übrigen war
er, wie gesagt, der Meinung, dass "wir Juden eigentlich keine
Maler [sind]. Wir können die Dinge nicht
statisch darstellen. Wir sehen sie immer im Fluß, in der
Bewegung, als Wandlung. Wir sind Erzähler." (J 102)
Ich will diesen Teil mit einer Anekdote beschließen. Kafka
besuchte am Prager 'Graben' eine Ausstellung französischer Malerei
zusammen mit dem jungen Janouch. Hier der O-Ton aus Janouchs Erinnerung:
"Es waren dort Bilder von Picasso: kubistische Stilleben und
rosa Frauen mit riesigen Füßen. 'Das ist ein mutwilliger Deformator',
bemerkte ich. − 'Das glaube ich nicht', sagte Kafka. 'Er notiert bloß
die Verunstaltungen, die noch nicht in unser Bewußtsein eingedrungen
sind. Kunst ist ein Spiegel, der >vorausgeht< wie eine Uhr −
manchmal." (J
100)
Literatur (Auswahl):
− Rothe, Wolfgang: Kafka in der Kunst. Stuttgart + Zürich 1979 (Belser
Verlag).
− Bokhove, Niels/van Dorst, Marijke (Hg.): Einmal ein großer Zeichner.
Franz Kafka
als bildender Künstler. Prag 2006.
−Janouch, Gustav: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen.
Frankfurt/M. 1961 (Fischer Verlag). [hier als Sigle: J].
Zweiter Teil:
BILDER EINER AUSSTELLUNG
Sie finden in dieser Ausstellung, wie man es bei Kafka nicht anders
erwartet, nicht nur Werke zum "Urteil", sondern auch generell
Arbeiten zum Werk dieses Autors, manche, indem sie Motive wiederholen
oder Motivstrukturen aus Kafkas Werk veranschaulichen (z.B. "Die
Verwandlung"), andere, indem sie analoge Ausdrucksmittel der
Register 'Schrecken', 'Angst', 'Panik', 'Unterwerfung', 'Sehnsucht'
usw. verwenden. Letztere kommen aber überraschend undramatisch vor.
Sie sind, wenn man von Pola Dwurniks "The Judgement" oder
Milivoje Bogosavljevics "Scream", Wolfgang Neumanns Radierungen
und Ulrike Jacobis Lithografie absieht, scheinbar gefasst und darin
an Kafkas nüchterner Ästhetik angepasst (dazu später noch mehr). Es
gibt also eine gewisse Neigung zum Verhalten großer Gefühle. Mit Kafkas
Schreckensvisionen, so scheint es, hat man sich überwiegend abgefunden:
die Welt ist 'Kafka', kein großes (Psycho-)drama, eher ein Gewohnheits-Dramulett
zum Thema Schuld und Sühne, observativ, obsessiv, manipulativ bis
zur Perfektion, ja die Perfektion ist selbst Teil der Maschine, die
besticht, indem sie zerstört (Ulrich Stürmers und Jochen Schlöders
Life-Zerfall auf Video, Michael Jochums Projekt Selbstporträt, Peter
Haurys Schuhbrunnen, der gar das Ertrinken mechanisiert und zur reproduzierbaren
Ware macht.)
Man erkennt den Grundwiderspruch in der Spezies homo, die sich (nach
George Bataille) durch ihre Fähigkeit zur Negation vom Tier unterscheidet
− und doch Natur sein will. Man erkennt auch das Zyklische im Schrecklichen:
Kafkas Katastrophen sind von denen angerichtet, die sie erleiden bzw.
von denen erlitten, die sie anrichten. Täter und Opfer, Richter und
Delinquent werden Komplizen. "Das Urteil" thematisiert ja
diese Zyklik als Unheilsfabrik, in der Vater und Sohn die erschreckendste
Spannung generieren, sozusagen auf Industrieniveau (der Verkehr im
Augenblick der Exekution erinnert daran). In all diese Turbulenzen
kehrt also auch in dieser Ausstellung Normalität ein, wie ja das Ungeheure
bei Kafka immer das Normale scheint. Wir sind nicht geradezu mehr
erschüttert, aber wir fragen doch noch immer ungläubig: Ist so der
Mensch? Sind wir so wirklich − sind das wirklich wir?
Immerhin ist seit Kafka die Tagesordnung des Schreckens so übervoll
geworden, dass wir auf die Frage nicht mehr schlechterdings 'nein'
sagen können. Wir wissen inzwischen (z. B.), dass aus dem servilen
Untertanen der k. und k. Monarchie der Totalitarismus hervorging;
dass die Greuel des Ersten Weltkriegs noch lange nicht der Inbegriff
der Schrecken waren, wohl aber deren schreckliches Vorspiel; dass
bald der Holocaust auf der (horribile dictu!) Tagesordnung stand,
dem auch Kafkas gesamte bis dahin noch lebende Familie zum Opfer fiel
− Wolfgang Neumann erinnert daran in seiner stupenden Auschwitz-Radierung).
Wir wissen heute noch mehr: z. B. dass es "die Banalität des
Bösen" (Hannah Arendt), die totalitäre Person (= den furchtbaren
Niemand) gibt; dass die Psyche im erst industriellen, dann technokratischen
Zeitalter die kritischste aller Massen ist; dass das sog. "Gewissen"
kein anthropologische Privileg, sondern eine erlernte (und wieder
verlernbare) Matrix ist. Kafka zeigt uns nicht nur, welche Rollen,
wie viele Ichs, welche Handlungsschemata uns in einer dissoziierenden
Gesellschaft auf den Leib geschrieben sind. Er macht uns auch klar,
dass die Evolution des Menschen in einem grausamen Komödienstadel
enden kann. Die Figurine von Jan-Peter Manz mit dem schönen Titel
"Ich bin Laika" erinnert nicht nur an die Hündin Laika,
die als erstes Lebewesen im Weltraum verglühte, sondern auch ironisch
an den 30.000 Jahre alten Löwenmenschen aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle.
Die alte Wahrheit blitzt auf: homo ist keine auf seine Tiernatur reduzierbare
Art mehr, sondern ein Hybrid, der bei dieser seiner Aufführung auf
dem Planeten weder den Namen Tier noch Linnés Schmeichelattribut sapiens
verdient. Kafkas Bericht für eine Akademie lässt in Sachen Evolution
kein happy ending erwarten.
So ist die Lage des Menschen auch in den Werken dieser
Ausstellung nicht verhandelbar. Sie ist, wie sie ist: "Das Urteil"
als Knäuel ohne Ende der Natalia Matta-Landero (bedruckte Schicksalsfäden?),
oder (existentialistisch) "Life is a killer" der Nadine
Lindenthal. Im Bett des Vaters in Artur Kurkowskis Gemälde liegt kein
Mensch mehr, sondern eben der Hybrid als "Warrior", als
Aggressionsmaschine Eine besonders blasierte Variante mit der Ich-Entfremdung
zurechtzukommen, ist in Eva Kobersteins "Petersburger Projektion"
dargestellt: der ins ferne Russland projizierte "Freund"
in der Doppelfunktion als Sündenbock und Ichideal: multiple Persönlichkeit
als Standard.
Der Blick von der Brücke in Oliver Herrmanns Videoinstallation hat
sich längst 'eingerichtet'. Wir hängen mit dem Kopf nach unten (statt
ihn zu verlieren) − auch Markus Koch unterstreicht das − und sehen
den Himmel höchstens als Abgrund. Der Brückenselbstmord als Stunt,
der Selbstmörder als Profession: die Täter-Opfer-/Aktiv-Passiv-Einheit
als Typus wie das Fliegenabklatschen und Abgeklatschtwerden (Günter
Guben), Haarabschneiden und Geschnittenwerden (im Video von Annette
Haug und Heiko Volk), Rocklüften und Gelüftetwerden (Pia von Aulock,
Guben), Anprangern und Angeprangertwerden (Kurt Grunow).
Über uns waltet eine unheimliche Utopiekonstellation wie in Daniel
Eltingers Erlöserfantasie, die die mitleiderregende Nostalgiespannung
in Kafkas Figuren zeigt, das Prinzip Warten (denken wir an das Gesetz
oder die kaiserliche Botschaft).
Wenn einmal wie bei Conny Blom der Satz "Du hast keinen Freund
in Petersburg" auf einem Billboard steht, dann hat sich das Überich-Unbewusste
zum (naturgemäß öffentlichen)Skandal entwickelt, dann wird die innere
Stimme zum Slogan. Jetzt liegt die Mechanik der Selbstanzeige in nuce
vor uns. Sozialpsychologie als Maschinenlehre.
Es wären mehr Titel und Namen zu nennen, als es die Zeit
erlaubt. Ich kann nur hinweisen auf "Disturbia" von Miriam
Abdelmoula (das Verbluten der 'weichen Seele' vor der 'harten' Stadt)
− oder das "Ur-Teil" von Julia Schrader, das Kafkas Geschichte
auf ein Ding, ein 'uriges Teil' reduziert und uns die Beschönigung
des Schrecklichen gleich mitliefert. Oder Thomas Ulms Video "In
seiner Jugend", das an die unmenschliche Artistik in Kafkas "Hungerkünstler"
erinnert: Leistung als Selbstverbiegung, der perfektionierte Sturz
nach oben. In keiner anderen Arbeit wird auch die Perversion des Schönen
zur
Maschinenbewegung so dargestellt. Auch Michaela Braun und Clare Chapman
bringen diese Perversion auf den Punkt. Sie geben dem Ertrinkenden
Schwimm-Flügel mit und zeigen so die regressive Utopie (des Fliegens)
im Absturz. Rainer Schleckers "F.K. − FKK Kur" porträtiert
Adam-Kafka verschämt in einem Osterhasenparadies, nachdem er "erkannt"
und damit seine Unschuld verloren hat − auch dies Ausdruck einer schlimmen
(gnostischen) Mechanik.
Mit all dem und mehr kann die Ausstellung aufwarten. Dabei bleibt
der Bogen der Lesarten gespannt, wie nicht anders zu erwarten: vom
politischen Ansatz (die Videoinstallation von Andreas Mayer-Brennenstuhl)
über den soziologischen Zugang ("Das Urteil" von Johannes
Gérard) zum religiösen Verständnis (Rüdiger Scheiffeles "Kafka-Improvisation")
und schließlich zur psychoanalytischen Lesart (Yutta Saftiens "The
Others") etc. Das alles in unaufgeregtem Durcheinander. Zur gewählten
"Hängung" brauchte es keine andere Philosophie als eine
fatalistische: "Mal sehen, welche Verbindung die Werke eingehen!"
Jedes Exponat schlägt die Brücke zum Nachbarn von sich aus. Will sagen:
In Kafkas Welt passt eins zum andern − wie in der Büchse der Pandora,
wo die Unglücks-Chemie `stimmt' (die Hoffnung in Johanna Smiateks
leerer Plastiktüte ist mythosgemäß ausgenommen; sie bleibt in der
Büchse). Hätten wir vielleicht wegen der theriomorphen Formen Yutta
Saftiens Spinnengewebe neben Smu Rebs "Obsession" hängen
sollen oder wegen der Sakralsymbolik Scheuffeles siebenflossigen Fisch
neben Brigitte Neufeldts und Michaela Sadlewskis "Loslösung"?
Wer die Hängung (wie neulich Georg Leisten in der Stuttgarter Zeitung) als "verwirrend"
empfindet, empfindet eben richtig und sollte das dem Veranstalter
zugute halten. Verwirrend ist unterm Strich aber vor allem dies: dass
der kleine Mensch, der bei Kafka Thema ist, so entsetzlich Großes
und (vor allem) so große Entsetzlichkeit anrichten kann; dass er will
und zugleich nicht will, was er tut; weiß und nicht weiß; baut und
zerstört gleichzeitig. Welche Spezies des Planeten leistet sich solchen
Widerspruch!? Verwirrend auch, aber ganz Kafka: die fast durchgängige
Abwesenheit des O-Mensch-Pathos in dieser Ausstellung, der 'coole'
Expressionismus, der auf billige Bilanz verzichtet. So wenig Kafka
schreit, so wenig (oder so verhalten) schreien diese Exponate. Wer
nicht schreit, hat entweder das Schlimmste schon hinter sich, oder
er spart sich den Atem für den nächsten Alarm. Bleiben wir cool, aber
wachsam!