Susa
Ramsthaler: performative Lesung aus "Lenz" (1. Teil) / Dr.
Gerhard Oberlin (Vortrag)
Lesung und Vortrag 9. November 2013, 19 Uhr
Bericht von der Oberwelt-Exkursion
nach Waldersbach am 18. und 19. Januar 2014
200 Years Georg Büchner
‘Lenz’ or the reason in madness
Susa Ramsthaler: perfomative reading from ‘Lenz’ (Part 1) / Dr. Gerhard
Oberlin (lecture)
The 17th October 2013 marks Georg Büchner’s 200th birthday – occasion
for Oberwelt e.V. to pay tribute to the writer who died at only 23
years of age with the series “Reflexes”.
The evening will begin with Susa Ramsthaler’s performative reading
‘zwischen’ (English: between). In regard to both content and style,
Georg Büchner’s ‘Lenz’ could be characterised as being ‘in-between’.
The performance will focus on this state of being ‘in-between’ through
movement and the text will thus be recited under specific conditions.
The framework is established by a collage of mountains, specially
adapted to the situation at Oberwelt.
Following the performance, Dr. Gerhard Oberlin will hold a lecture
entitled “‘Lenz’ or the reason in madness”.
An exhibition on Büchner’s ‘Lenz’
is planned for Spring 2014. Participation is open to any artist who
feels inspired by this fragmentary and yet complete story.
Reading and lecture, 9th November 2013, 7pm
Vortrag von Dr. Gerhard Oberlin am 9. 11. 2013
Die Vernunft des Wahnsinns
Georg Büchners Erzählfragment Lenz
1
Das 1835 verfasste Novellenbruchstück Lenz, das man nach dem Tod des
23-jährigen Georg Büchner am 19. Februar 1837 in seinem Nachlass in
der Züricher Spiegelgasse 12 fand, ist eine Krankheitsschilderung,
die zugleich tief ins Innere einer Epoche und ihrer Menschen blickt.
Die Empathiefähigkeit, die der Autor in der Darstellung des Falls
an den Tag legt, zeigt und verbirgt gleichzeitig, dass dieses hochkarätige
Stück Dichtung aus wissenschaftlicher Neugierde, aber auch zum Zweck
der persönlichen Konfliktverarbeitung geschrieben wurde.
Die Epoche, das ist das Menschenalter zwischen 1770 und 1840.
In ihm bestimmte eine idealistische Periode Kant'scher, Hegel'scher,
Schiller'scher Prägung den Zeitgeist im deutschen Kulturraum. Es ist
die Zeit nie gekannter sozialer, ökonomischer und technischer Umwälzungen
in Europa. Büchner reicht durch die Wahl des Lenz- Stoffes von seiner
Warte von 1835 aus fast 60 Jahre zurück und erhebt Anspruch auf Aktualität
des als zeittypisch erachteten Poetenschicksals.
Dieses war bereits seit dem Zweiten Teil von Goethes Autobiographie
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1829) und durch verschiedene
Veröffentlichungen über Jacob Lenz in den Jahren zwischen 1825 und
1835 sowie durch die Tieck'sche Ausgabe seiner Schriften von 1828
einem breiten Publikum in Erinnerung gerufen worden, immer wieder
auch im Zusammenhang mit der Werther-Figur.
Jacob Michael Reinhold Lenz war in den 1770-ern vor allem für
seine komischen Theaterstücke Der Hofmeister und Der neue Menoza (1774)
bekannt. Sie wurden allerdings ebensowenig zu seinen Lebzeiten aufgeführt
wie die etwas späteren Soldaten (1776). Seit 1777 wurde er durch psychische
Störungen auffällig, die ihm die geistige Arbeit zunehmend unmöglich
machten und ein unstetes Leben von Obhut zu Obhut bedeuteten. Er hielt
sich vom 20. Januar bis 8. Februar 1778 im elsässischen Waldersbach
bei Straßburg auf, wo er bei Johann Friedrich Oberlin, dem protestantischen
Pfarrer aus dem Steintal in den Vogesen, seelsorgerlich-therapeutischen
Beistand fand.
Oberlin war eine damals bis über die Grenzen Frankreichs und
Deutschlands hinaus bekannte Philantropenpersönlichkeit. Er galt als
herausragender Sozialreformer, Erzieher, Humanist: ein Multitalent,
das mitten im praktischen Leben stand und auch vor Straßenbauprojekten
nicht zurückschreckte. Ob Legende, ob Wirklichkeit: im Elsass erzählte
man sich lange, es sei seinem Ruf als Erzieher und Menschenfreund
zu verdanken gewesen, dass die russischen Truppen, die Napoléon auf
dessen Rückzug bis nach Frankreich zurückverfolgten, seine eigene
Gemeinde vor Plünderung und Brandschatzung verschonten. Tatsächlich
hatte Oberlin russische Adelssprösslinge unter seine Fittiche genommen.
Der für seine "barocken Fratzen" (wie Goethe es nannte:
MA, S.
261) bekannte Lenz hatte, nachdem er im Dezember 1776 auf Betreiben
Goethes des Weimarer Hofes verwiesen worden war, das Jahr 1777 an
rasch wechselnden Orten verbracht: in Colmar, Zürich und Winterthur,
zuletzt im badischen Emmendingen bei Goethes Schwager Schlosser.
Dessen Frau Cornelia Schlosser-Goethe war kurz zuvor verstorben.
Lenz war darüber wohl untröstlich und muss angesichts des Unabänderlichen
wohl erstmals Symptome einer psychischen Krankheit gezeigt haben.
Nach Waldersbach kam er als Begleiter des Winterthurer Förderers Christoph
Kaufmann und dessen Braut Elise Ziegler, die Oberlin persönlich zu
ihrer Hochzeit einzuladen kamen – ein Anlass, der in der Darstellung
Büchners keinerlei Erwähnung findet. Jacob Lenz wählte von Colmar
aus allerdings vermutlich den Alleingang nach Waldersbach und ging
den direkten Weg "durch's Gebirg" (L 7). Er erreichte so
das Steintal einige Tage vor den angehenden Kaufmanns am 20. Januar,
dem Tag, mit dem die Erzählung im Erstdruck von 1839 (dagegen wohl
kaum im − verschollenen − Originalmanuskript) beginnt, 3 Tage vor
seinem 27. Geburtstag (der wiederum unerwähnt bleibt).
Über die Zeit unmittelbar nach dem fast dreiwöchigen Aufenthalt
bei Oberlin gehen die Berichte auseinander. Wahrscheinlich aber
verbrachte Lenz einige Wochen in Straßburg, bevor er zu Schlosser
nach Emmendingen bei Freiburg zurückkehrte. Weitere Stationen am Oberrhein
folgten, eine angefangene Lehre als Schuhmacher, dann wieder das Elsass,
bis ihn im Sommer des folgenden Jahres sein älterer Bruder in Basel
abholte und ins Elternhaus nach Riga zurückbrachte.
Sein Vater hatte sich in all der Zeit geweigert, denen, die seinen
Sohn unterstützten, Geld zur Pflege zu schicken. Er bestand darauf,
sein Sohn möge zurückreisen und sein Theologiestudium in Königsberg
fortsetzen.
Dazu war es dann allerdings zu spät, ein bürgerliches Leben kam
für den Kranken nicht in Frage, geschweige ein geistliches Amt wie
das seines Vaters, der im kirchlichen Amt Karriere machte. Nach dem
vorübergehenden Abklingen der Psychosen schlug er sich, stets an der
Armutsgrenze und allergisch gegen Almosen, als Hauslehrer mit wechselnden
Stellungen durch: zunächst noch zwei Jahre in Livland, dann in Petersburg,
später in Moskau. Dort starb er, offenbar verelendet, am 23. oder
24. Mai 1792, "von wenigen betraueret, und von keinem vermisst",
so der Nekrolog des russischen Pfarrers Jerczembski im Jenaer Intelligenzblatt
der Allgemeinen Litteratur-Zeitung vom Jahre 1792 (MA, S. 82).
Bereits kurz nach seiner Ankunft in Straßburg am 9. März 1835 fiel
Büchners Wahl bei der Suche nach einem Erzählstoff auf die kurze Waldbach-Episode
im Leben des "unglücklichen Poeten" Lenz. Nach Straßburg
war der revolutionäre Demokrat und Co-Autor des Hessischen Landboten
(1834) vor den großherzoglich-hessischen Polizeibehörden geflohen.
Es war sein zweiter Studienaufenthalt. Sein Verleger Karl Ferdinand
Gutzkow hatte ihn zum Schreiben gedrängt, nachdem er sich durch seinen
Erstling Danton's Tod empfohlen hatte.
Spätestens im Mai verfügte Büchner über Oberlins bis dahin
unveröffentlichten Rechtfertigungsbericht mit dem Titel Herr L( vom
Frühjahr 1778. Er verfasste eine erste Niederschrift, überwiegend
eine Abschrift des Originals. Dann machte er sich an die Durcharbeitung
des Stoffes. Recherchierte über Lenz. Dessen Schriften hatte er in
der Tieck'schen Ausgabe von 1828 zur Hand. Dessen Auftritt in Straßburg
fand er in Goethes Dichtung und Wahrheit beschrieben wie auch dessen
Lebensstationen in dem Aufsatz Der Dichter Lenz. Mittheilungen von
August Stöber (1831). Er recherchierte über Oberlin, dessen Biografie
Vie de J. F. Oberlin von Daniel Ehrenfried Stöber 1831 veröffentlicht
worden war, und schließlich über erotische und religiöse Melancholien,
die er er in psychiatrischen Schriften beschrieben fand.
Mehrere Wanderungen hatten ihn seit 1831 in die Vogesen geführt, zuletzt
1835 während der Arbeit an der Lenz-Novelle. Im November 1835 schreibt
er an Gutzkow, er liebe die Vogesen "wie eine Mutter, ich kenne
jede Bergspitze und jedes Tal" (SW 2, S. 420). Noch während der
Arbeit, zwischen der ersten und dritten Entwurfsstufe, muss er auch
das Steintal (Ban de la Roche) an der Westflanke des 1100 m hohen
Champ du Feu besucht haben, darin das Dorf Waldbach (Waldersbach).
Dort ist noch heute die Pfarrkirche aus dem 18. Jahrhundert zu sehen,
einen Steinwurf entfernt von einem Sandsteinbrunnen. Der steht an
der Stelle, wo Lenz nach Oberlins Bericht in einem "Brunnentrog"
(MA S. 14) seine winterlichen Kaltwasserbäder nahm, um zu sich selbst
zu kommen (der exakte Büchner macht aus dem "Brunnentrog"
des ersten Entwurfs nach dem Augenschein nunmehr "Brunnstein").
Büchner machte sich also neben all seinen Studien an die Arbeit
an diesem Text, den er noch bis zum November 1835 fortsetzen konnte,
bevor er sie abbrach. Die Dissertation und die Bewerbung um die Züricher
Dozentur forderten seine ganze Kraft und Zeit. Wenn ihn die Prosa
so kurz nach dem gerade veröffentlichten dialogischen Feuerwerk in
Danton's Tod nicht befriedigt haben mag: In dieser kurzen Zeit gelang
ihm ein Erzählmonument, dessen wenige Seiten die deutsche Prosasprache
um neue Ausdrucksfarben und die Weltliteratur um den stream of consciousness
bzw. die konsequent figurale Erzählperspektive bereicherten.
Angesichts dieser Pionierleistung tritt der Fragmentcharakter des
Werks in den Hintergrund. Sieht man von Brüchen und Spuren des Arbeitsprozesses
ab, so wirkt es gerade deshalb vollendet, weil das Nichtvollendete
sein Thema ist. Die Unvollständigkeit des Kunstwerks scheint der Unvollkommenheit
der Schöpfung in Lenzens Erleben entsprechen zu wollen, der Erfahrung
nämlich, dass "die Welt, die er hatte nutzen wollen [N] einen
ungeheuern Riß [hatte]" (L 30).
Aber auch die für Lenz typischen Lebensentwürfe erlaubten keine
ausladende Prosa. Und noch viel weniger bedurfte es großer (und
vieler!) Worte für den kümmerlichen Rest Sinn, der dem Leben, wenn
überhaupt, noch zu entlocken ist. In Dantons Tod lässt Büchner seinen
Titelhelden sagen: "Das Leben wird ein Epigramm, das geht an,
wer hat auch Atem und Geist genug für ein Epos in 50 oder 60 Gesängen?
S'ist Zeit, daß man das bißchen Essenz nicht mehr aus Zübern sondern
aus Liqueurgläschen trinkt [N]." (SW 1, S. 40)
Welche Form passte auch besser zu Lenz, der nach all den
abgebrochenen Lebensversuchen zu einem weiteren – vergeblichen! –
ins Steintal gekommen war! Zu dem bizarr abgebrochenen Denken des
Wahnkranken! Nur die unheile Form spiegelt das Unheile: den Bankrott
der kosmologischen Weltsicht. Der drängt in einem bisher ungehörten
Maß an: "Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen unnennbaren
Schmerz davon." (L 14)
Warum aber der Lenz-Stoff? Für einen Mediziner und Literaten
ließen sich zwei Arbeitsgebiete verbinden: die Psychopathologie und
die Literatur bzw. Literaturgeschichte. Der 'Fall Lenz' war einem
größeren Kreis bekannt, weil das Schicksal des Dichters exemplarisch
schien. Den einen diente er zum Exempel für entwurzelte Lebensweise,
den anderen zum Beweis für die Gefahren genialisch-ungezügelter Fantasie.
Daneben ließen sich die Auswirkungen von Repression und
Religion, von bürgerlichen Lebensmustern ingesamt illustrieren. Lenz
hatte sich zeitlebens gegen jeden Brotberuf gewehrt. Er wollte Schriftsteller
sein und sonst nichts. Für den geldknappen Büchner, der sich zwischen
Pflicht und Neigung aufrieb und nebenher auch noch zwei Dramen von
Victor Hugo übersetzte, ein Faszinosum, aber auch eine Warnung vor
geistiger Erschöpfung. Man verglich Lenz mit Werther, um die Selbstverschwendung
der Genie-Generation zu demonstrieren. Der historische Lenz hatte
sich in Straßburg selbst mit Werther auseinandergesetzt und dort seine
Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers (1775) geschrieben.
Büchner musste sich als angehender Arzt und literarischer Autor
herausgefordert gefühlt haben, zumal er ja nicht weit entfernt wohnte.
Das Werk des livländischen Dichters aus Seßwegen lernte er vermutlich
erst in Straßburg kennen. In einem Brief an seine Braut zitiert er
dessen Verse aus Die Liebe auf dem Lande, bezeichnenderweise um Mitte
März 1834, als er sich in Gießen von einer schweren Meningitis und
darauf folgenden psychischen Krise erholte.
Oberlin, der Steintäler Pfarrer, war 1826 fast 86-jährig verstorben.
Pfarrer Jaeglé, der Vater von Büchners Braut Wilhelmine, hatte ihm
die Leichenrede gehalten. Das Andenken des Philantropen wurde in Straßburg
wachgehalten. Von dort stammte er, dort lebte seine Familie. Oberlins
Bericht Herr Lenz(, den er zur Rechtfertigung verfasst hatte, als
man ihm nachlässige Fürsorge für den kranken Dichter vorwarf, fand
sich neben Briefen des kranken Lenz im Besitz der befreundeten Stöber-Brüder.
Kenntnis, Faszination, Nähe, Einfühlungsvermögen: all dies erklärt
noch nicht Büchners Fähigkeit, Lenzens Seelenleid quasi durch sich
hindurchgehen zu lassen. Schon sein Verleger Gutzkow (1839, S. 93)
stellte im Nachwort des Erstdrucks fest: "Da ist Alles mitempfunden,
aller Seelenschmerz mitdurchrungen; wir müssen erstaunen über eine
solche Anatomie der Lebens- und Gemüthsstörung." Der Psychiater
Wilhelm Mayer (1921, S. 109) fand es 80 Jahre später "erstaunlich,
in welch hohem Maße dieser große Dichter sich einzufühlen vermochte
in den Mechanismus der beginnenden schizophrenen Veränderung".
Er mutmaßt: "Vielleicht saß in ihm ein Stück der Qual, die er
bei Lenz schildert."
Tatsächlich deuten die im November 1833 im Gießener Elternhaus erlittenen
Symptome auf eine analoge psychische Krankheit bei Büchner hin. In
den Briefen an Wilhelmine Jaeglé aus jener Zeit beschreibt er Wahnepisoden,
Anzeichen von Depersonalisation, wie sie auch der historische Lenz
bekundete (Hinderer, 2001, S. 85ff.). Gewisse Formulierungen der Lenz-Erzählung
scheinen vorweggenommen, wenn Büchner im Frühjahr 1834 an Wilhelmine
schreibt: "Die Finsternis wogte über mir, mein Herz schwoll in
unendlicher Sehnsucht, es drangen Sterne durch das Dunkel, und Hände
und Lippen bückten sich nieder."
Oder: "Ein einziger, forthallender Ton aus tausend Lerchenkehlen
schlägt durch die brütende Sommerluft, ein schweres Gewölk wandelt
über die Erde, der tiefbrausende Wind klingt wie ein melodischer Schritt."
(SW 2, S. 377ff.)
"Byronismus" hat man diese aus der Romantik bekannte
prometheische Stimmungslage auch genannt und als Zeitkrankheit
begriffen wie im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts den 'Wertherismus'.
Dazu gehörte der atheistische Trotz ebenso wie der subjektivistische
Überschwang, für den Stéphane Mallarmé den Begriff "Krankheit
der Idealität" fand.
In der Tat zeigt sich Büchners trotziger Atheismus, so modisch
himmelstürmend er im Danton noch daherkam, hier von seiner
Kehrseite. Er wirkt von Zerrüttung gedämpft und selbst noch im
Hiob'schen Trotz frei von Draufgängerei und plädierender Wortgewalt.
Von gelegentlichen Zugeständnissen an die Mode (des melancholischen
ennui), auch einigen Sprachmünzen abgesehen, geschieht die Beschwörung
der Zeitstimmung auf typisch Büchner'sche Weise, und das heißt: in
eingehender Loyalität zur empirischen Wirklichkeit des 'Falls' − und
das bei aller dichterischen Freiheit der Fiktion!
So bleibt die Erzählung einem dokumentarischen Ansatz verpflichtet,
herrscht der Respekt vor der Dokumentenlage vor. Das Bemühen, eine
morbide Grundströmung der Zeit abzubilden, kann jetzt in den Hintergrund
treten, ohne an Bedeutung zu verlieren. Die implizite These, dass
Lenz kein Einzelfall, sondern ein Typus sei (und die Psychose ein
Zeitphänomen), muss keiner wissenschaftlichen Prüfung standhalten,
sondern steht als Apriori im Raum der Dichtung. Scheinbar geht es
dann erst in zweiter Linie um die Darstellung einer Zeitkrankheit
an einem Einzelfall, der es erlaubt, die Auswirkungen eines psychosozialen
Reaktionszusammenhangs aufzuzeigen.
Dass hier womöglich sogar psychotrope Faktoren dingfest gemacht werden
sollen, wird im rhetorischen Gesamtgestus somit scheinbar ausgeschlossen,
faktisch jedoch suggeriert. Der exakte Büchner kann die Zerrissenheit
der Epoche ohne wissenschaftliche Skrupel durch sich hindurchgehen
lassen, um im literarischen Versuch deren Abläufe nachzustellen. Dabei
verliert er nie jenen spezifischen Lenz aus dem Blick, wie er ihn
aus den Werken und Briefen des Dichters Jacob Lenz, aus Oberlins Bericht
und anderen Dokumenten kennt. Er verwechselt ihn nicht mit sich oder
umgekehrt, sondern lässt ihm sein originäres Krankheitsbild, insbesondere
auch seine Idiosynkrasien: die Anfälle von Frömmigkeit, die religiösen
Grübeleien, den Pietismus, die Gesangbuchverse usw.
2
Bevor Büchner seinen Lenz im Pfarrhaus von Oberlin ankommen lässt,
zeigt er ihn als Wanderer auf den tiefverschneiten Bergflanken und
Höhen der Nordvogesen, den Champ du Feu hinauf, dann das steile, im
oberen Teil felsige Steintal hinunter nach Waldbach. Diese Schilderung
gehört zu den frei erfundenen Passagen der Erzählung. In wenigen Skizzenstrichen
– "Welche Naturschilderungen, welche Seelenmalerei!", begeisterte
sich Gutzkow (1839, S. 110f.) – entsteht ein hochdynamisches Figuren-
und Landschaftsbild in Wechselwirkung, in welchem sich die Dramatik
einer starken Erregung in den Vordergrund schiebt.
Besonders der heutige Leser, der Erfahrungen mit perspektivischen
Formen in Bildender Kunst und Literatur gesammelt hat, die er vielleicht
als "wild" oder "expressiv" oder einfach nur als
"subjektiv" bezeichnen würde, wird nicht sogleich auf ein
psychogenes Krankheitsbild schließen. Vielleicht fallen ihm Van Goghs
Pappelbäume oder Gedichte von Georg Heym ein, an deren bizarre Ausdruckssprache
er sich gewöhnt hat. Er mag sich wundern über gewisse Sätze wie: "Müdigkeit
spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht
auf dem Kopf gehn konnte." (L 7)
Aber selbst diesen Satz, mit welchem nach Arnold Zweig (1859, S. 188)
"die moderne europäische Prosa [beginnt]", wird er eher
noch im Bereich des übersteigert Subjektiven als des Pathologischen
ansiedeln.
Selbst wenn es am Ende der aufgewühlt-aufwühlenden Einführung heißt:
"Es war als ginge ihm was nach [N] als jage der Wahnsinn auf
Rossen hinter ihm" (L 8), hat er noch nicht den Eindruck, hier
werde die Geschichte oder auch nur die Vorgeschichte eines psychiatrischen
Falls erzählt. Die Metaphernsprache der Dichtung erscheint ja auch
gern als Ausgeburt einer allzu blühenden Fantasie, in welcher die
Übertreibung als rhetorisches Stilmittel inbegriffen ist.
Der Eindruck des 'eher Normalen' rührt aber nicht daher, dass da
etwa 'ganz normale' Affekte und Fantasien in einer etwas übertriebenen
Sprache dargeboten werden, sondern ist vor allem die Folge eines ästhetischen
Tricks, der in dieser Form hier uraufgeführt wird. Die Wahnepisoden,
deren Zeugen wir werden, erleben wir nicht von außen, sondern von
innen. Wir selbst nehmen die figurale Perspektive ein. Sie werden
also nicht wie im Hörsaal klinisch isoliert und aus sicherer Distanz
beschrieben, sondern als 'Gemeinsamkeit' von Figur und Betrachter
suggeriert. Mit anderen Worten: wir, die Leser, verfallen in Wahn,
wir normalisieren ihn.
Weil an diesen (jetzt unseren!) Gemütswehen nichts besonders dran
scheint, nehmen wir sie, wie sie sind. Eine Verschwörung gegen die
Normalität ist so in Gang gesetzt. Es entsteht der Eindruck von Erlebnisnähe,
der den Leser zur Identifikation zwingt.
Der interaktive Prozess, der zwischen Leser und Text so
stattfindet, wird dadurch begünstigt, dass der Erzähler seinen Helden
als Perspektivenfigur wählt und gleichzeitig durch Beobachtungsschärfe
ein objektives Darstellungsinteresse vorgibt (welches im Hinblick
auf die subjektive Realität des Protagonisten auch besteht). Schon
die schiere Quantität der Landschaftsbilder trägt zu dieser Suggestion
bei. Der Leser merkt jetzt nicht mehr, dass er sich 'überidentifiziert',
also weit über die Gemeinsamkeiten hinaus sich wiederzufinden glaubt.
Der äußere Bezugspunkt ist genommen, somit die Möglichkeit zur Wahrheitsprobe,
der Betrachter verwickelt sich nolens volens ins Geschehen.
Eine besondere Sogwirkung erhält diese Ästhetik auch noch
dadurch, dass Büchners naturalistisches Darstellungsgeschick ihm
Stilmittel an die Hand gibt, die ihm photographisch exakte Bilder
erlauben. Sie sind vergleichbar den zeitgenössischen Gemälden Caspar
David Friedrichs (die er allerdings wohl kaum kannte). Sein eigentliches
Beobachtungsinteresse gilt dabei der Beschaffenheit der Perspektive
selbst, sprich: dem Seelenzustand dessen, der diese Bilder sieht,
nämlich Lenz. Daraus ergibt sich eine paradoxe ästhetische Verfremdung;
es ist dieselbe, die im kunsthistorischen Prozess Im- und Expressionismus
zu ästhetischen Skandalen machten. Denn beide Stilrichtungen sind
Darstellungen der Perspektiven selbst bzw. der geistigen Bildträger.
Wenn man die Form-Inhalt-Korrelation unter dem Gesichtspunkt
der Perspektivität näher untersucht, fällt als erstes die Wahrnehmungsegozentrik
auf. Der aufgewühlte Lenz, wie er durch die Berge der Vogesen streift,
nimmt die Dinge nicht nur subjektiv wahr, sondern hochgradig selbstbezogen.
Büchner zeigt uns einen regelrecht objektblinden Lenz und damit ein
Phänomen der 'absoluten' Innerlichkeit.
Wo diese mit der Außenwelt in Berührung kommt, stellt sich eine
krankhaft sensible Reaktion ein.
Aber diese Dominanz des Bewusstseins über die Realität erlaubt
nicht allein nur die subjektive Darstellung des eigenen Inneren, sondern
begründet einen subjektiven Seinsbegriff. Aus ihm resultiert der für
Lenz typische Zustand des metaphysischen Alleinseins. Denn er setzt
eine Welt voraus, die nur in seinem Kopf existiert, ein Zustand, der
panische Ängste heraufbeschwört: "Es war ihm dann, als existire
er allein, als bestünde die Welt nur in seiner Einbildung [N]"
(L 31) – "[N] er war allein, ganz allein [N] es faßte ihn eine
namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren [N]." (L 8)
Nicht erst das berühmte "Titanenlied" im letzten Teil der
Erzählung ist eine Bestätigung für diese Dynamik: "[N] es war
ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen
und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen."
(L 25) Schon auf den ersten Seiten wurde ja sichtbar, dass Lenz' Verhältnis
zur Außenwelt aus dem Lot ist: "[...] er hätte die Erde hinter
den Ofen setzen mögen [...] die Erde wich unter ihm, sie wurde klein
wie ein wandelnder Stern [...]." (L 8)
Die Proportionen stimmen nur insofern, als sie 'auf dem Kopf
stehen', was Lenz ja auch physisch gerne täte. Also nicht: der kleine
Mensch versus die große Erde, sondern umgekehrt: die kleine Erde versus
der große Mensch. Natürlich ist solche Umkehrproportionalität nur
im Bewusstsein möglich, in einer Psyche, die das Gefühl der Kleinheit/
Niedrigkeit durch den Wahn der Größe abwehrt. Bekanntlich geht mit
dem aufgeblähten Größenselbst der Zusammenbruch einher:
"Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter."
(L 22) Das erinnert einmal mehr an die Fabel La Fontaines vom Frosch,
der ein Ochse sein will, sich aufbläht und zerplatzt.
Horst-Eberhard Richter (1979) hat dieses dialektische Zusammenwirken
von Allmachts- und Ohnmachtsgefühlen in seinem Buch Der Gotteskomplex
beschrieben. Lenz leidet in der Tat an einem solchen "Gotteskomplex".
Er selbst möchte Gott sein, weil er die Erniedrigung des verlassenen
Menschseins nicht verwinden kann.
3
In seiner Büchner-Preisrede Der Meridian von 1960 hat der Dichter
Paul Celan (1968, S. 141) jenen Satz am Beginn des Fragments: "[...]
nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn
konnte" folgendermaßen kommentiert: "Wer auf dem Kopf geht
[N], der hat den Himmel als Abgrund unter sich." Dieser unvermittelte
Satz deutet auf die Abgründigkeit metaphysischer Überkonstruktionen
und allgemein überwertiger Fiktionen hin, freilich nicht nur im Zusammenhang
mit Religionen. Büchner arbeitet in die Charakteristik seiner Lenzfigur
von Anfang an zwei Schichten ein: zur psychischen Einsamkeit (loneliness),
der manchmal auch eine physische Einsamkeit (solitude) entspricht,
kommt die metaphysische Verlassenheit oder 'Unbehaustheit', die Georg
Lukács (1962, S. 35) als "transzendentale Obdachlosigkeit"
bezeichnete.
Er tut dies so, dass schon bald eine Wechselbeziehung zwischen diesen
verschiedenen Qualitäten der Einsamkeit erkennbar wird: "[...]
er war allein, ganz allein [...] es faßte ihn eine namenlose Angst
in diesem Nichts, er war im Leeren [...]." (L 8) Noch kommt es
dabei auf keine spezifische Religiosität an bzw. der Sinnverlust ist
noch keinem Glaubenssystem zugeordnet. Erst später spielt dann gerade
der christliche Glauben eine ausdrückliche und dann zur Erklärung
beitragende Rolle.
Das Haus des 38-jährigen Pfarrers wird für Lenz zur Falle. Büchner
wusste das. Damit will er Oberlins therapeutische Verdienste nicht
in Frage stellen. Der Pfarrer hat getan, was er konnte. Lenz ist aber
genau wie Oberlin Theologe und er ist es, ohne es eigentlich zu sein.
Er befindet sich auf der Flucht vor der Religion, vor dem väterlichen
Zwang, ein geistliches Amt auszuüben. Sein Leben gründet nicht auf
dem "Felsen" des Petrus (Mt. 16, 18) als apostolischem Glaubensfundament,
sondern – Büchner legt diesen Sarkasmus seinem Thomas Payne in Danton's
Tod in den Mund – auf dem "Fels des Atheismus": "Das
ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes und
rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von
oben bis unten." (SW 1, S. 58)
Ganz im Gegensatz zu Lenz besitzt bei Büchner Oberlin den
Glauben an Gott und lebt ihm also vor, was er ablehnt. Lenz fühlt
sich aufgefordert, zunächst den Glauben wiederherzustellen, um dann
das seelische Gleichgewicht wiederzufinden und in die Fußstapfen des
Vaters zu treten. So wird gerade der Glaube in der durch Oberlin vermittelten
Faszination zum eigentlichen Beschleuniger der Krankheit.
Die scheinbare Beruhigung, die von ihm ausgeht, kommt im Text
verräterischerweise in utopischer Überzeichnung daher. Nachdem Lenz
sich Oberlins mystische Glaubenserfahrungen angehört hat, heißt es:
"[...] dieser Glaube, dieser ewige Himmel im Leben, dies Seyn
in Gott; jetzt erst ging ihm die heilige Schrift auf." (L 12)
Wir hören das Wort "Seyn", das einen für Lenz ja so unerreichbaren
Zustand der existenziellen Verankerung bezeichnet, und wir wissen:
was ihm wirklich fehlt, seine eigentliche Utopie, ist das Ruhen in
sich, das emotional gesicherte Selbst, die Orientierung in der Welt
und im Kosmos.
Ausdrücklich kommt die Zwiespältigkeit in seinem Verhältnis zu
Oberlin zum Ausdruck, wenn er zu Madame Oberlin sagt: "Sehen
Sie, ich will gehn; Gott, sie sind doch die einzigen Menschen, wo
ich's aushalten könnte, und doch – doch, ich muß weg, zu ihr [...]."
(L 23) Er meint jene Friederike Brion in Sesenheim, die nach Goethe
auch der historische Lenz (vergeblich) hofiert hatte, doch er hätte
auch jedes andere Ziel nennen können. Er ist eigentlich hier und anderswo
gleichzeitig. Er ist im Nirgendwo.
Von hier aus lässt sich besser verstehen, weshalb Büchner aus
Oberlins nüchternem Bericht über eine versuchte Totenerweckung an
einem Mädchen namens Friederike (an anderer Stelle Friederika) den
samt Nachspiel fast zweiseitigen Höhepunkt seiner Erzählung gestaltet.
Trocken heißt es dort, "daß Hr. L., nach vorhergegangenen eintägigen
Fasten, Bestreichung des Gesichtes mit Asche, Begehrung eines alten
Sackes, den 3. Hornung ein zu Fouday so eben verstorbenes Kind, das
Friederike hieß, aufwecken wollte, welches ihm aber fehlgeschlagen."
In der entscheidenden Passage schreibt Büchner:
"[...] das Kind lag im Hemde auf Stroh, auf einem Holztisch.
Lenz schauderte, wie er die kalten Glieder berührte und die halbgeöffneten
gläsernen Augen sah. Das Kind kam ihm so verlassen vor, und er sich
so allein und einsam; er warf sich über die Leiche nieder; der Tod
erschreckte ihn, ein heftiger Schmerz faßte ihn an, diese Züge, dieses
stille Gesicht sollte verwesen, er warf sich nieder, er betete mit
allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott ein Zeichen an ihm thue, und
das Kind beleben möge, wie er schwach und unglücklich sey; dann sank
er ganz in sich und wühlte all seinen Willen auf einen Punkt, so saß
er lange starr. Dann erhob er sich und faßte die Hände des Kindes
und sprach laut und fest: Stehe auf und wandle! Aber die Wände hallten
ihm nüchtern den Ton nach, daß es zu spotten schien, und die Leiche
blieb kalt." (L 24)
Lenz findet in dem toten Kind die Misere seiner eigenen Verlassenheit
wieder. Das Kind ist er selbst. Umso mehr, als er sich innerlich "todt"
(L 18) fühlt, weil er den lebendig-fühlenden (und daher auch leidenden)
Teil in sich dissoziiert, abgespalten hat. Darüber wurden wir schon
auf den ersten Seiten informiert, als es hieß: "[N] das Leben
wich aus ihm und seine Glieder waren ganz starr." (L 11). Nun
erfährt man: "Je leerer, je kälter, je sterbender er sich innerlich
fühlte, desto mehr drängte es ihn, eine Gluth in sich zu wecken, es
kamen ihm Erinnerungen an die Zeiten, wo Alles in ihm sich drängte
[...]." (L 24) Wie das Mädchen möchte er sich selbst aus dem
Zustand der lebensfernen Starre "wecken" – er möchte in
dem Mädchen sich selbst erwecken.
Im Augenblick des Erweckungsversuchs meldet sich der prometheische
Drang mittels göttlicher Wunderkraft ein Exempel für die schöpferische
creatio zu setzen. Die starre Leblosigkeit des Kindes, die seine eigene
ist, der "Jammer des Kindes" (L 32), der sein eigener ist,
das Mitleid mit dem Kind, das dem "tiefen, tiefen Mitleid mit
sich selbst" (L 32) entspricht – all das erweckt nun die trotzige
Empörung gegen die ihm selbst, gegen die dem Mädchen widerfahrene
Ungerechtigkeit. Jetzt steht er gegen alles auf, was ihn zerstört,
macht sich zum Herrn über Leben und Tod, trotzt den Naturgesetzen,
überhebt sich zum Messias, zitiert Bibelverse (z. B. Mk. 5,39-41).
Das Mädchen indes bleibt in die Tücher gehüllt. "Da stürzte er
halb wahnsinnig nieder, dann jagte es ihn auf, hinaus in's Gebirg."
Sodann "griff der Atheismus in ihn", er wird zu Hiob, mehr
noch − diesmal deutlich genug - zu Prometheus (der Text hat jetzt
in Dynamik, Aussage und Bildlichkeit Ähnlichkeit mit Goethes gleichnamigem
Gedicht): "[...] es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust
hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen
Wolken schleifen; als könne er die Welt mit den Zähnen zermalmen und
sie dem Schöpfer in's Gesicht speien [...]." (L 25) Das ist der
Höhepunkt der Erzählung. Das ist gleichzeitig die Klimax des Gotteskomplexes.
Hier wird er ausgelebt. Wir lesen in dieser Allmachtsüberhebung die
trostlose Tiefe der Selbstzerknirschung: "[N] er empfand ein
leises tiefes Mitleid in sich selbst, er weinte über sich [N]."
(L 14)
In dem Wahn, sich selbst alles sein zu müssen, wo nichts ist, "die
noch schreckliche Leere zu füllen" (L 31), werden pathogene Faktoren
sichtbar: Die Abkoppelung des Geistigen vom Wirklichen, der Alleingang
der Fantasie, der Zwang aus dem eigenen Kopf alles erschaffen zu müssen,
wo nichts existiert oder bereits alles zerstört ist; ja selbst noch
den Sinn in der Verneinung des Sinns und der Sinn-Instanzen neu stiften
zu müssen und wie Goethes Prometheus zu sagen: "Hast du's nicht
alles selbst vollendet [N]."
Vieles spricht dafür, dass es vor allem diese Faktoren sind,
weswegen Büchner sich für die besondere Art der Lenz'schen
Wahrnehmung interessiert, wie sie unter Bedingungen isolierter
Bewusstseinsregie und isolierter Innerlichkeit entstehen kann. Die
psychischen Störungen, die er uns vor Augen führt, stehen einerseits
für sich selbst (insofern sind sie Gegenstand der Pathographie); andererseits
stellen sie den Empirieverlust als Option im Abstraktwerden der Welt
dar. Am Ende besteht diese nur noch aus Formen, Farben und Linien
(die entsprechende Bildmotivik ist im Text redundant). Im symbolischen
Horizont gehen sie auf Veränderungen des Menschenbildes durch das
neuzeitliche Vernunftparadigma zurück. Im psychologischen Horizont
lassen sie auf Störungen des Gleichgewichts schließen, wie es für
die ganzheitliche Subjektwerdung konstitutiv ist.
Hier wird Lenzens Krankheit vielleicht am ehesten als "Zeitgesinnung"
(Goethe), ja als 'Zeitkrankheit' fassbar, reagiert sie doch auf eine
anthropologische Umwertung, die dem individuellen Bewusstsein die
ganze Last der Lebensorientierung überantwortet und es damit alleine
lässt. Lenz ist das Drama der sich selbst überlassenen Innerlichkeit.
Jeder von uns, absolut jeder, erleidet dieses Drama dann und wann
an sich selbst.
"Er saß mit kalter Resignation im Wagen" – das Schlussbild
zeigt
einen für sein Leben Geschlagenen, der eine "entsetzliche Stimme"
hört, "die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich
die Stille heißt" (L 33). Die Stille als Lärm, das ist wie der
Himmel als Abgrund, denn beide Paradoxa erklären sich aus einem Weltbildverlust,
der ein nihilistisches Vakuum hinterlässt.
Das Leiden an der cartesischen Vernunftautonomie, die das
"erschöpfte Selbst", die Fatigue d'être soi (Ehrenberg 2008)
und damit die "Krankheit der Freiheit" (Ey, 1971) erst hervorbringt,
führt zur Distanzierung von einer Kultur, die sich die "schmählichste
Verachtung der menschlichen Natur" leistet, um ihre "Holzpuppen"
(L 17) tanzen zu lassen.
Wenn wir heute über die 'Melancholien' unserer Zeit, die
Depressionen, lesen, sie seien "ein Laboratorium für die Ambivalenzen
einer Gesellschaft, in der der Massenmensch sein eigener Souverän
sein soll" (Ehrenberg, 2008, S. 20), dann finden wir dies in
Büchners Erzählfragment vorweggenommen.
"So lebte er hin" (L 34) – Der Schlusssatz enthält keine
optimistische Prognose für die Zukunft des "kranken Subjekts"
(Ehrenberg). "[N] er stirbt bei lebendigem Leib", kommentierte
Hans Mayer (1972, S. 281) diesen trostlosen Abgang aus der Geschichte.
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