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Sonntag Aktuell 13. Juni 2004

Die Seele Hollywoods in einer Abstellkammer: Auf zehn Quadratme­tern dreht eine Stuttgarter Künstlergruppe seit zwei Jahren den Film "Waterworld" nach. Verbleibende Drehzeit: zwei weitere Jahre.

Und alles nur wegen eines Kinoflops


Dreharbeiten

Gut, bei Kevin Costner verliefen die Dreharbeiten zu "Waterworld" etwas professioneller und kostenintensiver. Dafür haben die Filmfreunde in der Stuttgarter Galerie "Oberwelt" mehr Spaß. Bild: Heinz Heiss


"Sei einfach unwertes Leben!" Marco schaut etwas irritiert und nestelt ratlos an seiner Halskette aus Bierdeckeln. Peter Haury legt seine Minikamera kurz zur Seite, drückt die Rückwärtstaste des Video­recorders und lässt die Szene noch mal laufen. Auf dem Bildschirm sitzt Kevin Costner auf dem einsamen Ozean einem nervö­sen, ungepflegten Typen mit Halskette ge­genüber, der ihm eine Frau mitsamt Kind abkaufen will.

Marco hingegen sitzt auf einer alten, aufgeplatzten Couch; die Couch steht in einem mit Gerümpel voll gestopften kleinen Raum namens "Dein Klub", der früher mal als Abstellkammer für eine Stuttgarter Gale­rie diente. Im Hintergrund wackelt und singt eine lachende Puppe, die mit Granate und Gewehr stark an eine Guerillakämpferin erinnert. Sie stellt heute das Kind dar. Und Marco soll jetzt so tun, als ob er auf dem Ozean mit Kevin Costner spricht.

Seit zwei Jahren drehen Peter Haury und seine Mitstreiter auf den etwa zehn Quadrat­metern der Kammer den Streifen "Waterworld" (Wasserwelt) unter dem germanisier­ten Titel "Wotørworld" nach. "Waterworld", der damals teuerste Film "aller Zeiten", lief 1995 in den Kinos an und erzählt die Geschichte eines Endzeithelden, der nach dem letzten noch nicht überfluteten Stück Land sucht. Der Streifen galt als missraten und wegen der gigantischen Kosten als kommerzieller Flop. Für den bekennenden Costner-Hasser Haury die perfekte Gelegen­heit, seinem "Feind" mit genüsslicher Häme beim Karriereknick zuzuschauen.

Doch das Werk beeindruckte ihn nachhal­tig. "Waterworld ist die Seele Hollywoods", sagt Haury heute. Eine irre Mischung aus "Mad Max" und Familienfilm. "Da ist alles drin. Ich habe noch in keinem anderen Film so viele Klischees und typische Schlüsselszenen des Mainstreamkinos gefunden wie hier." Einsamer Held mit weichem Knie, resolute, aber dumme Frau, die erst wider Willen gerettet wird und sich zum Ende willig hingibt, hässliche Bösewichte - "ge­nial übel", findet Haury. Jahrelang nervte er seinen Bekanntenkreis mit Anspielungen und Zitaten aus "Waterworld". Bis es den restlichen Besuchern von "Dein Klub" - viele mit künstlerischem Hintergrund - reichte. Damit Haury endlich Ruhe gebe, schlug jemand vor, den Film jetzt einfach mal nachzudrehen.

Und das tun sie mit großer Präzision mit den Mitteln, die in einer ehemaligen Abstell­kammer eben zur Verfügung stehen. In "Waterworld" schmelzen die Polkappen, in "Wotørworld" Zuckerstücke in einer Schale, hier kämpfen die bösen Angreifer eines Flüchtlingsatolls auf Schnellbooten und mit Maschinengewehren, dort ruckeln sie mit Campingstühlen auf der Stelle und ballern mit Besenstielen, statt einer Stichflamme fliegt eine Lichterkette durchs Bild. "Wotørworld" soll jedoch mehr sein als ein parodistisches Spaßprojekt. "Nachdrehen bedeutet analysieren", sagt Haury. Wie funktionieren all die Klischees, und wie findet man eine kritische Distanz zur Hollywoodindustrie? "Natürlich ist Waterworld ein kulturelles Betäubungsmittel, das nur auf Effekte setzt. Andererseits ist er handwerklich perfekt gemacht, und auf der Ebene gefällt er uns dann auch." Mit dem Film könne die Gruppe sich am besten mit diesem Wider­spruch auseinander setzen. "Aus den Bil­dern. die wir brechen, entstehen neue", erklärt Haury ernst, denkt kurz nach, lacht dann und fügt hinzu: "Okay, außerdem ist das eine prima Möglichkeit, auf eine kulti­vierte Art infantil zu sein."

Stefanie Rehling, eine von etwa 30 regel­mäßigen Teilnehmern an den wöchentli­chen Drehs, pflichtet ihm bei: "Als Künstler brauchst du so komische Sachen, die du benutzen kannst." Sie kommt extra aus Wiesbaden, um mitzuspielen - meist böse, martialische Männer. "Mich fasziniert der enge körperliche Kontakt zu Leuten, die ich nicht kenne. Wenn die Kamera läuft und jeder alles gibt, kann ich mit einer fremden Frau auf dem Boden kämpfen, und es ist völlig normal." Hinter der Kamera musste sie jedoch noch niemanden verprügeln, sagt sie. Alles gehe demokratisch zu. Jeder könne jede Rolle spielen. Da die "Wotørworld"-Szenen mit der Originalsynchronisation unterlegt sind, kann der Zuschauer die Personen immer ihren "Waterworld"-Vorbildern zuordnen. Heute entscheidet sich Steffi für die Costner-Rolle, verkrampft ihr Gesicht zum typischen "Verschwindet, ich bin gefährlich"-Ausdruck und tauscht Frau und Kind tatsächlich gegen ein Stück Pa­pier.

Das erste Jahr war noch allein Haury auf die Costner-Figur festgelegt. "Aber bei den Vorführungen bin ich erschrocken, wie au­thentisch ich rüberkomme - exakt das glei­che Macho-Gehabe, da fehlte die kritische Distanz." Zusammenschnitte liefen bereits auf mehreren Filmfestivals.

Auch für einige Außendrehs hat das Pro­jekt "Wotørworld" die Abstellkammer einer Stuttgarter Galerie schon verlassen. Demnächst bauen Haury und Co. "Dein Klub" auf der Esslinger Fototriennale nach. So sollen möglichst viele Außenstehende in den Film integriert werden. "Wir kommen derzeit auf über 100 Darsteller", sagt Haury. Darunter waren auch vier australische Touristinnen, die sich mehr oder weniger versehentlich in "Dein Klub" verirrten. Sie wurden rekru­tiert, um als hysterische Atollbewohnerinnen über Costner alias Haury herzufallen und seinen Samen zu rauben.

Haury rechnet, dass mit dem bisherigen Tempo noch zwei Jahre ins Land gehen, bis der letzte "Wotørworld"-Costner die Lippen zum letzten "Waterworld"-Satz bewegt. Sor­gen, dass bis dahin niemand mehr Bock aufs Drehen hat, macht er sich nicht. Schon drehen sich Gespräche über Nachfolgeprojekte, etwa "Der Herr der Ringe" in einer Plattenbausiedlung. "Filmen gehört zu unserer Lebenspraxis. Wir haben schon mehr Zeit mit Waterworld verbracht als die Ma­cher", sagt Haury. Komplett angesehen hat er sich den Film allerdings nicht mehr. Im Flugzeug lief er mal, aber da ist er eingeschlafen. Steffen Becker



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Letzte Änderung: 29/06/23 13:17:42